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OEVERMANN, ULRICH. (2018): Die Neugier als Ausgangspunkt kindlicher Bildung. Video. Marburg: bsj Marburg.  
Added by: Manuel Franzmann (6/4/19, 10:12 AM)   Last edited by: Manuel Franzmann (6/4/19, 10:13 AM)
Resource type: Audiovisual
Language: de: Deutsch
BibTeX citation key: Oevermann2018
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Categories: General
Keywords: Bildung, Kindheit, Krise durch Muße, Muße, Neugier, Pädagogik, Schule
Creators: Oevermann
Publisher: bsj Marburg (Marburg)
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Abstract

Donnerstag, 29. November 2018, Rathaus Marburg, Historischer Saal, ab 18:00Uhr 

Text des Veranstalters:

"Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Marburger Vorträge zu Kindheit und Jugend“ konnte der bsj Marburg den renommierten Frankfurter Soziologen Ulrich Oevermann für einen Abendvortrag im Rathaussaal gewinnen. Prof. Oevermann hat in den letzten Jahrzehnten als akademischer Forscher mit seinem umfangreichen Theorie- und Forschungsprogramm der Objektiven Hermeneutik nicht nur die Sozialwissenschaften in methodologischer und theoriebildender Hinsicht entscheidend vorangebracht, sondern auch der pädagogischen Praxis z.B. in professionalisierungstheoretischer Hinsicht starke Impulse gegeben.

In einem breit angelegten und theoretisch anspruchsvollen Vortrag hat sich U. Oevermann nun mit der Neugier als Ausgangspunkt kindlicher Bildung beschäftigt. Die Gier nach Neuem, zu der auch der Mut gehört, sich mit dem Neuen intensiv zu beschäftigen, wurde dabei als konstitutiv für den Bildungsprozess begriffen, wobei auch deutlich aufschien, dass die Oevermannsche fallrekonstruktive Forschungspraxis selbst als ein Labor der Neugier zu verstehen ist. In Rückgriff auf die Befunde, die u.a. diese Forschungspraxis hervorgebracht hat, entfaltete der Vortragende sehr grundlegende und pointierte Bestimmungen, die die Entstehung des Neuen betreffen. Der gesetzlichen Schulpflicht, die aus seiner Sicht prinzipiell den Antrieb zur Neugier unterläuft, ging es dabei ebenso an den Kragen wie dem allgegenwärtigen Schlagwort des lebenslangen Lernens, das eben nicht auf Bildung und einem Sich-Bilden abhebt, sondern sich in Lernroutinen erschöpft. Aber – dem Druck des Up-to-Date-Seins folgend - einen Computerkurs zu belegen oder einen Waffenschein zu machen, trifft nicht das, was U. Oevermann als Bildung versteht. Demnach geht es um krisenhafte Vorgänge, in denen das Subjekt sich in seiner Autonomie erleben kann, weil es eben nicht routiniert mittels Bescheidwissen oder schlichter Übernahme von Krisenlösungen die Offenheit einer Situation oder die Unbestimmtheit des Neuen überwindet. Ausgehend von der sprechakttheoretischen Grundlegung, dass einem Gegenstand ein Prädikat zugeordnet wird (x ist ein P) und insofern das Unbestimmte immer als Krisenauslöser zu verstehen ist, arbeiteten sich Oevermanns Überlegungen immer weiter in die Unterscheidung verschiedener Krisentypen vor. Die Neugier ist demnach in der Krise der Muße konstituiert, d.h. der selbsterzeugten Krisenkonstellation, in der man ohne äußeren Handlungsdruck Neues entdecken kann und sich dem Unbestimmten, dem Unbekanntem hingibt. Das Wissen, das daraus entsteht, gehört für Oevermann zur Sphäre der Routine, die Entstehung oder Entwicklung des Wissens, die von der unmittelbaren Erfahrung ausgeht, stellt die Krise dar. Und jede wirkliche Erfahrung – das wurde im Vortrag sehr deutlich – ist ein Prozess der Krisenbewältigung, ganz gleich ob es um Natur- oder Leiberfahrungen, um Entscheidungen oder um ästhetische Erfahrungen geht. Hierbei sind auch naheliegende Bezüge zu Adornos Vorstellung der lebendigen Erfahrung thematisiert worden.

Im Vortrag nahmen professionalisierungstheoretische Fragen großen Raum ein. Lebendige Erfahrungen, Neugierprozesse, Krisen der Muße entstehen im Rahmen von professionalisierter Pädagogik nämlich nicht lebenspraktisch, sondern durch Spezialisten begründet, begleitet oder initiiert.

Dies hat immer fremdbestimmende Anteile, die typische Widersprüche, Paradoxien bzw. Antinomien professionalisierter Praxis hervorbringen, der es ja um die (Wieder-)Herstellung von selbstbestimmter Lebenspraxis geht. In detaillierten Ausführungen über Professionen allgemein und der pädagogischen Profession im Besondern, in deren Mittelpunkt die Stiftung eines Arbeitsbündnisses mit den ihr anvertrauten Klienten steht, markierte U. Oevermann die Neugier der Kinder als Moment, das dem Leidensdruck des Patienten im medizinischen Kontext entspricht, und somit die notwendige Bedingung für ein gelingendes Arbeitsbündnis mit der pädagogischen Fachkraft darstellt. Mit dem Montessori-Diktum „Hilf mir, es selbst zu tun“ umriss Oevermann diese für die pädagogische Profession so wichtigen Kernprobleme.

Die über 120 Zuhörerinnen und Zuhörer, darunter viele Fachkräfte aus pädagogischen und sozialen Arbeitsbereichen sowie aus dem akademischen Feld, folgten konzentriert und auch gebannt den weitläufigen und gleichzeitig scharf formulierten sowie grundlegenden Gedankengängen eines profilierten, der Forschung und somit auch der Neugier verpflichteten Soziologieprofessors, der dankenswerterweise den weiten Weg aus der Schweiz nach Marburg auf sich genommen hat.

Neben dem öffentlichen Vortrag hat Herr Oevermann zudem einen Workshop durchgeführt, in dem zwei Protokolle aus der naturorientierten Frühen Bildung des bsj interpretiert wurden. Derartige Fallinterpretationen sind für Oevermanns Wirken in den Sozialwissenschaften und darüber hinaus prägend, z.B. als Forschungspraktikum, das von Forschern ganz unterschiedlicher Disziplinen aus ganz Deutschland besucht wurde. Für die Professionalisierung der pädagogischen Praxis können sie als wichtiger Bestandteil der Klärung, der Reflektion und des Verstehens konkreter Arbeitspraxis verstanden werden."


  
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